Gokiburi da!
von Peter Nawrot
Sie wohnen auch bei Dir. Es kann zwar von Fall zu Fall sehr unterschiedlich lange dauern, bis Du sie einmal zu Gesicht bekommst, aber sie sind da, mit hundertprozentiger Sicherheit. Sie hocken in Ritzen und dunklen Winkeln und beobachten Dich; sobald Du die Wohnungstür schliesst – von aussen, versteht sich - , stürzen sie hervor und übernehmen die Wohnung. Nein, nicht die ganze Wohnung. Wozu auch? Im allgemeinen nur die Küche, wo der Tisch – oft für menschliche Augen kaum sicht bar – reichlich gedeckt ist.
In Japan heissen sie ‚Gokiburi’, die asiatischen Schwestern und Brüder der schlichten deutschen Küchenschabe. Das Modell ist in verschiedenen Grössen – allerdings immer in derselben Ausführung – anzutreffen. Im Frühsommer sind es vorwiegend kleine, neuere Modelle – nur ab und zu trifft man ausgewachsene Vorjahresexemplare, die den Winter und alle Vergeltungsschläge überstanden haben. Im Spätsommer dann, allen Gegenmassnahmen zum Trotz, sieht man sich vorwiegend grossen Exemplaren gegenüber, und es besteht kein Zweifel darüber, in wessen Küche sie sich zu dieser Grösse gefressen haben.
Die Grösse, das ist es eben. Von der Grösse her betrachtet, rücken die Gokiburi bereits in den Haustierbereich (Mäuse, Hamster, Goldfische), werden aber nur äusserst selten als solche gehalten, bzw. geduldet.
Ihr hauswirtschaftlicher Nutzen ist recht umstritten. Selbst befragt, würden sie vermutlich ihre umweltreinigende Funktion hervorheben. Das glaubt man aber nur so lange, bis man sie einmal geschäftig an den Haushaltsvorräten herumfuhrwerken und auch die Endprodukte ihrer Verdauungsarbeit gesehen hat. Dieses ist wohl auch der Grund für ihr ständig schlechtes Gewissen. Sie gehen einem aus dem Weg. Nun gut, bei dem Grössenunterschied ist das vielleicht noch verständlich. Doch trifft man sie einmal rein zufällig in der Speisekammer (z.B. bei unvermuteter früherer Heimkehr), so bleiben sie nicht ruhig stehen, beantworten die dem Wohnungsbesitzer auf der Zunge liegende Frage nach ihrem Tun und entfernen sich nach dem Austausch üblicher Höflichkeitsfloskeln gemächlich. Nein, wie ertappte Diebe flitzen sie – meist noch hastig kauend, mapfend, schluckend – in alle Richtungen davon. Wen würde das nicht misstrauisch machen? Was liegt nun näher als eine gehörige pädagogische Tracht Prügel? Na klar, das Dingfestmachen der Übeltäter. Der bereits erwähnte Grössenunterschied – selbst in Japan – gepaart mit der dreifachen Geschwindigkeit (6 Beine!) verschafft den kleinen Haushaltsgesetzesbrechern nahezu alle Fluchtvorteile. In den meisten japanischen Küchen mangelt es ja nicht an Ritzen und Löchern, in denen sich die flinken Teufel nur zu gut auskennen.
Ja, Teufel müssen es sein. Denn auch noch in nahezu ausweglosen Situationen – Du siehst Dich schon als strafender Herr der Lage – gelingt ihnen dank ihrer mystischen Fähigkeiten die Flucht. Selbst die grössten Vertreter (4 cm Länge, 1 cm Höhe) schaffen es irgendwie, sich so weit zu verflachen, dass sie durch haarfeine Spalten passen. Ohne Zauberei geht das nicht, physikalisch jedenfalls ist das unerklärlich.
Irgendwann platzt einem dann der Kragen. Man plant den entscheidenden Vergeltungsschlag. Das jüngste Gericht für alles, was sich Gokiburi schimpft (aufgepasst, manchmal bezeichnen japanische Ehefrauen ihren Mann als Gokiburi, wer weiss, warum ...). Der Drogist weiss Rat. Verständnisvoll wählt er aus, packt ein (mehrfach!), schluckend bezahlt man, es ist ja für einen guten Zweck.
Gebrauchsanweisung? Kein Problem, einsichtige Bildchen mit verendeten Gokiburi mit reuevollen Gesichtszügen weisen auch dem leseunkundigen Ausländer den richtigen Weg zu einer gokiburi-freien, umweltfreundlichen, gesunden Wohnung. Fenster zu (man will ja keinen Vogel vom Himmel holen), Schränke auf (um den Delinquenten die Deckung zu nehmen), Lebensmittel sorgfältig abdecken (natürlich ist das Mittel völlig harmlos, doch sicher ist sicher; auch sollte man es besser nicht berühren, einatmen, verspeisen oder anblicken), und schon kann es losgehen.
Ein mit geheimnisvollen Chemikalien gefüllter Becher wird in Wasser gestellt, und dann nichts wie raus aus der Wohnung so schnell die Füsse tragen. Einen Blick zurück riskiert man noch und sieht weisse, dicke Wolken brodelnd emporquellen. Man unterdrückt die aufkommenden Gewissensbisse, wie oft hat man schliesslich die Gokiburi im Guten zu überreden versucht!
Es empfiehlt sich, die Wohnung erst wieder nach mehreren Stunden zu betreten. Und dann schnell alle Fenster auf (und ggf.Wiederbelebungsversuche mit dem Hamster, Goldfisch, etc.). Eigentlich hatte man ja erwartet, gemäss der Beschreibung nun über Berge dahingeraffter Gokiburi zu klettern. Weit gefehlt. Wenn man Glück hat, wird man einige fusskranke Exemplare finden, die es nicht mehr geschafft haben. Die Mehrheit aber hat rechtzeitig das Weite gesucht. Vermutlich wurden sie vom Drogisten gewarnt, der so eine weitere umsatzfördernde Vergeltungsaktion notwendig macht. Wo waren nun die lieben Tierchen, als die chemische Keule drohend in der Luft schwebte? Wahrscheinlich bei Verwandten in den angrenzenden Wohnungen (schmausend und lachend).
Am besten man gewöhnt sich an die Gokiburi. Sie haben die älteren Rechte. Und tatsächlich würde man, wenn man von einer längeren Reise zurückkehr, beim Öffnen der Wohnungstür das gewohnte Gekrabbel und Geraschel der auf dem raschen Rückzug befindlichen, mit Nahrungspaketen reich bepackten Gesellen vermissen. Gokiburi sind gesellig. Verreist man, gehen sie in die bewohnte Nachbarwohnung. Anfangs glaubt man noch, diese Angewohnheit durch vorgetäuschte Abreisen ausnutzen zu können. Vergeblich, man kann sich noch so leise heimschleichen, irgendein zurückgelassener Spion wird einen entdecken und Meldung erstatten. Solche Aktionen empfehlen sich im übrigen auch dann nicht, wenn einem an einem guten Einvernehmen mit den Nachbarn gelegen ist. Wer hat schon gerne plötzlich die doppelte Anzahl Gokiburi in der Küche? Auch ein Grund, warum die Japaner meist nur sehr kurze Zeit verreisen, man will dem Nachbar die eigenen Gokiburi nicht zu lange zur Pflege überlassen.
Ein Tip. Sollten die Nachbarn nach einer chemischen Vergeltungsaktion nur mehr sehr steif grüssen, so war vermutlich die Dosis zu hoch und hat die Nachbarn veranlasst, den Tag im Freien zu verbringen.
Noch ein letzter Tip. Sollte in einem Rundlauf-Sushi Restaurant (Fischhäppchen rotieren auf Tellern im Kreis, der Gast bedient sich selbst und rechnet entsprechend seinem Tellerstapel ab) ein Gokiburi vorbeifahren, so ist das weder ein Werbegag noch die Aufforderung, die einseitige Fischkost durch Insekten anzureichern. Der Gokiburi gehört da nicht hin. Und als Frau/Mann von Welt übersieht man ihn – wenn man aus Versehen im ersten Heisshunger (oder aus Unkenntnis der Landessitten) nicht bereits hineingebissen hat (in diesem Fall bitte kein Aufsehen erregen, sondern tapfer schlucken – vom Band nehmen heisst konsumieren!).