“Er bewegt sich wohl nicht so viel”
von Arvin Lee, Tendoryu Aikido Singapur
geschrieben an der Harvard Universität, USA
21. März 2005
Letzten Montag kam eine Klassenkameradin von mir, Haruko san, eine Richterin aus Japan, bei mir vorbei, um sich einen Video-Clip von Shimizu Sensei auf meinem Laptop anzusehen. Sie machte eine Beobachtung, die mich wirklich aufhorchen ließ: „Dein Lehrer scheint sich nicht allzuviel zu bewegen“. So eine einfache Beobachtung, die mir aber völlig entgangen war, und daß sie mir es sagen mußte, veranlaßte mich, über die philosophischen Verzweigungen nachzudenken. Dieser Artikel ist der Versuch, einige davon zu artikulieren.
Wenn man nur Shimizu Sensei betrachtet, dann ist es offensichtlich nicht richtig, daß er sich wenig bewegt: welcher Nage muß sich nicht bewegen, um seine Technik auszuführen? Wenn man ihn dagegen in Bezug auf seine Ukes betrachtet, wird man bemerken, daß sich die Ukes, relativ zu ihm gesehen, weit mehr bewegen.
Die Ukes stürzen heran, um ihn anzugreifen, führen hier und dort Finten aus und machen die verschiedensten Atemi-Bewegungen, die den Moment der ersten Konfrontation definieren (de-ai). Shimizu Sensei reagiert nur im letztmöglichen Augenblick, und einfach nur so. Keine überflüssige Bewegung. Keine unnötigen, gekünstelten Bewegungen. Nur einfach so.
Dieser anscheinende Mangel an Bewegung kann auf eine mehr abstrakte Weise begrifflich gemacht werden, indem wir geometrische Bezeichnungen benutzen. Der unterste gemeinsame Nenner der meisten Aikido-Techniken ist der, daß man sich selbst zur Achse macht, um die der Uke bewegt wird. Nun kann man sich einen Kreis vorstellen: ein Punkt, der eine 360 Gradwendung in der Nähe des Zentrums vollzieht, würde durch einen Ort beschrieben, der eine geringere Größe besitzt als ein ein Punkt, der dasselbe in der Nähe des Umfangs macht. So würde Shimizu Sensei, der Nage ist und damit die Achse der Kreisbewegung bildet, durch diese Definition einen kürzeren Weg zurücklegen als der Uke, der definitionsgemäß den Kreisumfang bildet.
Aber ich glaube, daß diese Beobachtung mehr enthält als einfache wahrgenommene Verzweigungen. Die heranstürmenden Ukes und alle die Finten und Angriffsbewegungen, die sie ausführen, können Metapher für die Ereignisse im Leben sein, die ungestüm auf uns einzustürmen scheinen und drohen, uns zu verschlingen, oder unsere Wünsche und Bedürfnisse, die in unser Bewußtsein einzudringen scheinen und uns nicht zur Ruhe kommen lassen. Viele von uns tendieren dazu, sich reaktiv zu verhalten, und verschlimmern damit nur den Ablauf der Dinge. Das könnte ein Mißverständnis mit einem Nahestehenden sein – oder mit einem nicht so Nahestehenden. Wir mögen umhergehen und versuchen, die Umstände zu erklären, und verschlimmern tatsächlich die Dinge durch unser Verlangen, die Dinge zu korrigieren. Wenn ein Mann sich betrinkt und beim Herumgehen den Frauen um ihn herum erzählt, daß sie „die attraktivsten Bienen sind, die er je gesehen hat“, ist das nicht das Schlimmste, was er möglicherweise am nächsten Tag machen kann, um es wieder gut zu machen, daß er ihnen Ungelegenheiten bereitet hat, zu sagen: „Ich war betrunken und habe alles nicht so ernst gemeint, wie ich es gesagt habe“? Die Fabeln von Leo Tolstoy enthalten die Geschichte eines Affen, der mit beiden Händen Erbsen umklammert hält. Er ließ eine fallen, versuchte sie aufzuheben und ließ weitere fallen. Er versuchte, diese aufzuklauben und verstreute dabei alle Erbsen. In einem Wutanfall warf er sie weit von sich und stapfte davon. Wenn Du Dich in einem Loch befindest, höre auf zu graben, wie das alte Sprichwort sagt.
Manchmal wünschen wir uns etwas sehr stark – zum Beispiel einen heißersehnten Job, und wir versuchen, die Bekanntschaft einer bestimmten Person zu machen und gehen ihr um den Bart, um damit noch eine weitere Person kennenzulernen, die imstande sein könnte, ein schnelles Treffen mit einer vierten Person zu organisieren, die den Entscheidungsträger der Firma kennt, in der wir gerne arbeiten würden. Dabei verlieren wir soviel Energie, daß wir, wenn wir dann endlich dazu kommen, die Person, auf die es ankommt, zu treffen – wenn wir jemals so weit kommen – keine irgendwie klarere Vorstellung haben, wie wir den Entscheidungsträger überzeugen können, oder noch schlimmer, ob wir den Job überhaupt wollen. Manchmal entwickeln unsere Aktionen ein Eigenleben, und der Schwanz wackelt mit dem Hund.
Hier ist ein einfaches Beispiel: die Ausführung von Irimi-nage. Wie oft enden wir in einem Wettstreit der Willenskräfte, der seinen Höhepunkt in einer Auseinandersetzung des Herumstoßens findet? Liegt das daran, daß wir zu viel getan haben? Der scharfsinnige Leser mag an diesem Punkt unterbrechen „Ich weiß, worauf Du hinaus willst, aber mit Sicherheit sind die kausalen Zusammenhänge falsch, unsere Techniken funktionieren nicht deshalb nicht, weil wir zu viel machen, es ist genau deshalb so, daß wir uns so anstrengen, sie funktionieren zu lassen, weil fürchten, daß unsere Techniken nicht wirken. Aikido-Meister können es sich nur deshalb leisten, sich wenig zu bewegen, weil sie dazu fähig sind und doch den Uke zu Boden bekommen.“
Aber wissen wir mit Sicherheit, daß die Kausalitäten so stimmen? Man stelle sich den Irimi-nage aus der Persepektive des Uke vor. Menschen sind mit instinktivem Widerstand gegen extreme Kräfte ausgestattet. Dieser Instinkt ist sogar noch lebendiger, wenn der Uke mit dem Hals durch den Nage fixiert ist, der durch sein Verhalten und seine Bewegungen demonstriert, daß er ganz versessen ist, seine Bewegung durchzuziehen, wobei er den Kopf des Uke an der eigenen Brust hält. Was tut der unglückliche Uke? Er versucht natürlich, jede Bewegung des Nage zu durchkreuzen. Nage wird darauf antworten, indem er Ukes Hals sogar noch fester hält, und der letztere wird nun seinerseits wieder darauf reagieren, indem er versucht, sich so weit wie möglich vom Nage wegzubewegen, um dem Druck auf seinen Hals zu vermindern, und das zerstört die gemeinsame Achse, die so notwendig für den Erfolg des Wurfes ist.
Der entscheidende Aspekt, der oft übersehen wird, ist der der Dynamik von Aktion und Reaktion. Wenn wir übertreiben, dann veranlassen wir andere Menschen dazu, sich genau anders zu verhalten, als wir es uns vorgestellt haben. Und das wirft dann die tiefer darunter liegende Frage auf, warum wir gewisse Ergebnisse so dringend wünschen? Ist es möglich, sich selbst zu trainieren, etwas nicht so sehr zu wünschen? Verhilft uns Aikido dazu?
Ich werde die Beantwortung dieser Frage mit einer Anekdote beginnen. Als ich am Neujahrstag zurück in die USA flog, um mein Winterhalbjahr zu beginnen, nutzte ich das exzellente Flugunterhaltungsprogramm der Singapore Airlines und sah mir einen neuen Aktionfilm mit Jackie Chan an, an dessen Titel ich mich nicht erinnern kann. Er spielte die Rolle eines Polizeiinspektors, der ein hervorragender Kampfkünstler war (wie immer) und ein spezielles Einsatzteam leitete. Jedoch war er nicht darauf vorbereitet, es mit einer Bande polizeihassender Teenager aufzunehmen, die Computerspielfanatiker waren. Diese Bande entwickelte komplizierte arkadenähnliche Sprengfallen, die sie an verschiedenen Orten in einem verfallenen Gebäude plaziert und in das sie die Polizei gelockt hatten, und sie kontrollierten die Funktion dieser Fallen per Computer. Am Ende waren alle Männer unter Jackie Chan an den Händen an der Decke aufgehängt, und die Teenagerbande projizierte Bilder dieser Szene und des Vorganges, wie es dazu gekommen war, an die Wände des Raumes, in dem er sich befand, und er wurde durch diese Bilder gewaltig verwirrt. Als er schließlich seine Männer erblickte, verließ ihn seine Selbstkontrolle; als er aufgefordert wurde, verschiedene ‚Spiele’ um das Leben seiner Männer zu spielen, konnte er sich nicht konzentrieren und verlor, und er litt Höllenqualen, als er sah, wie die Seile, an denen seine Männer hingen, durchgeschnitten wurden, und den ekligen Plumps hörte, wie sie 10m durch die Luft fielen und auf den Betonboden knallten, einer nach dem anderen.
Nachdem er vier seiner Männer auf diese Weise verloren hatte, wurde er zu einem unbewaffneten Kampf aufgefordert, wo angenommen werden konnte, daß er sich hervorragend schlagen würde. Aber als er versuchte, einen von hinten angreifenden Gegner mit einem Schulterwurf zu werfen, erkannte er, daß er dazu nicht in der Lage war, trotz zweier Versuche. Wir alle wissen, daß zur Ausführung derartiger Würfe Nages Schwerpunkt unter dem Schwerpunkt von Uke liegen muß – die Tatsache, daß er keinen Erfolg hatte, war eine realistische Anspielung auf die Tatsache, daß das Zentrum eines Menschen, der verspannt ist, nicht länger tief und stabil bleiben kann.
Diese Geschichte ist eine Illustration – allerdings eine sehr extreme – daß die Qualität unseres Trainings bis auf das Niveau fällt, auf dem wir gelernt haben, unsere Emotionen zu kontrollieren, und es könnte daher vielleicht noch etwas klarer gesagt werden, daß das Zügeln unserer Wünsche unserem Aikido mehr helfen würde als anders herum. Mit anderen Worten, Emotionen und Wünsche können etwas sein, was für das Training in den Kampfkünsten exogen ist, obgleich man eigentlich deutlicher sagen sollte, daß ein derartiges Training uns behilflich ist, ein höhere Ebene der Gleichmut zu erlangen, was uns in einem gewissen Maß erlaubt, unsere Wünsche zu zügeln.
Manchmal denken wir, daß wir etwas wollen, aber diese Wünsche mögen auf schwachen Annahmen beruhen. Eine der größten Lernerfahrung, die ich auf einem Workshop für Verhandlungstechniken, an dem ich hier teilnahm, machen konnte, ist, daß es ein Trugschluß ist zu denken, daß wir nur dann ‚erfolgreich’ waren, wenn es uns gelingt, unseren anfänglichen Standpunkt beibehalten zu haben, wenn die Gespräche vorüber sind und der Rauch sich verzogen hat. Standpunkte sind oft, wenn auch nicht immer, einfache Anzeichen zugrundeliegender Interessen. Diese Interessen können auch dann bedient werden, wenn wir der Gegenseite auf halbem Wege entgegenkommen, und manchmal kann das sogar für die Interessen noch besser sein. Eine Anekdote in einer unserer Vorlesungen erzählte die Geschichte von zwei Geschwistern, die zehn Orangen aufteilen mußten, und nach viel Streitereien mit je fünf auseinandergingen. Der eine warf die Schalen seiner Orangen weg und aß das Fruchtfleisch; der andere warf alles Fruchtfleisch weg und benutzte dann die Schalen zum Backen eines Kuchens. Der wesentliche Punkt ist, daß das, was wir denken zu wollen, verschieden davon ist, was wir wirklich wollen, und bevor wir Energie dabei verschwenden, etwas anzustreben, von dem wir denken, das wir es wollen, müssen wir sorgfältig darüber nachdenken, ob wir bezüglich dessen, was wir wollen, aufrichtig waren und ob wir uns auch entsprechend klar ausgedrückt haben. Die Konsequenzen dieser Erkenntnis für das Aikido ist, warum sich Sorgen machen, wenn man zum Beispiel einen Shiho-nage aus Ryote-tori nicht ansetzen kann, wenn man sich durch einen größeren und schwereren Uke umklammert fühlt, wenn Du noch genauso leicht einen Ellbogenstoß ins Gesicht andeuten kannst und, wenn er seinen freien Arm zum Schutz seines Gesichtes hochhebt, in einer Tenkanbewegung einen Ikkyo ansetzt? Die zugrundeliegende Absicht ist hier die Überwindung des Gegners, und das läßt sich genauso gut durch die Ausführung einer zweiten Technik erreichen, nicht wahr?
Ich fürchte, daß meine anfängliche Beobachtung, obgleich reich an vielen Erkenntnissen, entführt worden und sich auf einen Kletterkurs gemacht hat, der mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet hat. Wieviel Aktion ist optimal? Offensichtlich hängt das korrekte Ausmaß von den verschiedenen Situationen ab, aber sicherlich kann es einige Maßstäbe geben, Daumenmregeln, die wir benutzen können, um intuitiv zu spüren, ob wir es bereits erreicht haben? Ich kann nicht behaupten, die Antworten zu wissen. Aber das ist der Vorteil, wenn man ein jüngerer Schüler in dieser Kunst ist – man wird meine Worte entschuldigen und mich vielleicht sogar wegen meiner Bescheidenheit loben.
Aber ich kann meine Verantwortung als denkendes Individuum nicht niederlegen, und ich möchte mit zwei vorsichtigen Gedanken abschließen. Erstens, wir könnten mehr erreichen, indem wir weniger tun, wenn wir ‚direct mind’ (jikishin) besitzen. Ich kann jedoch nicht vorschlagen, wie das erreicht werden kann – das ist die Ebene meiner Unreife zum gegebenen Zeitpunkt. Alles, was ich habe, ist ein intensives Gefühl, daß wir damit beginnen müssen zu würdigen, daß unsere Aktionen in dem Maße überflüssig sind, wie wir nicht aufrichtig zu uns selbst sind - was wir wirklich wünschen und erreichen wollen – und daß wir die Qualität unseres ‚direct mind’ dadurch verbessern können, daß wir regelmäßig genau überprüfen, welchen Zweck unsere Aktionen erfüllen. Und zweitens und zum Schluß würde ich gerne die anfängliche Beobachtung, mit der ich diesen Artikel begonnen habe, auf den Kopf stellen und vorschlagen, daß gerade so, wie es ein Markenzeichen eines Meisters ist, sich sehr wenig zu bewegen, es als Zeichen der Meisterschaft angesehen werden kann, wie weit jemand darauf vorbereitet ist, ökonomisch zu reagieren.