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Die 2. Chance

Kawaraban Nr. 34

05/1998

von Richard Moe

(51 Jahre, Professor an der Komazawa-Universität, Mitglied seit 8 Monaten)

Vor 33 Jahren bin ich zum ersten Mal nach Japan gekommen. Ich war Auslandsstudent in Kyōtō und habe während meiner Studienzeit Karate gelernt. Dies war mein erstes Zusammentreffen mit den Budōkünsten. Doch weil ich bedauerlicherweise ein halbes Jahr danach wieder nach Amerika zurückkehren musste, konnte ich das Karatetraining nicht fortsetzen.

Ein Jahr später kam ich wiederum zum Studium nach Japan. Aber um dem Studium folgen zu können, war ich voll eingespannt. Ich hatte keine freie Zeit zu Verfügung, und so konnte ich, obwohl ich wollte, keine Budōkunst lernen.

Während ich in den folgenden 10 Jahren einen eigenen ‚Weg’ suchte, machte ich die verschiedensten Erfahrungen und habe irgendwie in Japan überlebt. Ich mochte das Budō und wollte es irgendwann machen, doch bin ich nicht dazu gekommen. Der Hauptgrund war, dass ich mich meistens nicht allzu lange an einem Ort aufhielt. Während meiner Junggesellenzeit bin ich oft hin- und hergezogen. Nach meiner Heirat bin ich dann zur Ruhe gekommen und entschloss mich, wieder eine Budōkunst zu trainieren.

Das war genau vor 20 Jahren. Aber weil ich gerade 31 Jahre alt geworden war, dachte ich mir, dass es sinnlos wäre, wieder mit Karate anzufangen.

Eines Tages als ich auf dem Heimweg von Sangenjaya zu meinem Apartment im Bezirk Mishuku war, fiel mir der Tendōkan ins Auge. Weil ich nicht wusste, worum es sich bei Aikidō handelte, stattete ich dem Dōjō einen Besuch ab. Ermutigt durch die freundlichen Erklärungen von Shimizu Sensei trat ich dann in den Tendōkan ein. Das heutige Dōjō unterscheidet sich kaum vom damaligen. Der Umkleideraum befand sich dort, wo heute die Toiletten sind, und die heutigen Umkleideräume waren eine Veranda. Am Trainingsanfang wärmten sich zunächst alle gemeinsam auf. Danach trainierten alle wie heute die Technik, die von Shimizu Sensei gezeigt worden war; nach dem Ende des Trainings wurden die Tatami gewischt.

Aikidō hatte mir gut gefallen, doch bedauerlicherweise konnte ich es nicht fortsetzen. Ein halbes Jahr später nämlich wurde meine Tochter geboren, und ich konnte nicht mehr ins Dōjō gehen. Das lag nicht an der Familie, sondern ich selbst konnte die Zeit zum Trainieren nicht ordentlich arrangieren, und so bin ich bedauerlicherweise von dem Weg abgekommen, den ich beschreiten wollte.

Obwohl sich meine körperliche Kondition mit dem Alter zunehmend verschlechterte, tat ich nichts, um meine Gesundheit zu fördern, ausser dass ich mit dem Rauchen aufgehört hatte. Und es ist unnötig darauf hinzuweisen, dass ich zu dick bin.

Immer wieder mal dachte ich :„Ah! Du musst Sport machen!“, aber in der Praxis habe ich mich nicht bewegt. Eines Tages trat ich in ein Aikidō Dōjō in meiner Nähe ein, aber weil mir das Training nicht allzu sehr zusagte, habe ich bald wieder aufgehört.

Und so vor ungefähr 4 Jahren begleitete ich meinen Sohn, der gerade 12 Jahre alt geworden war, zum Tendōkan, um ihn anzumelden. Auch ich hätte eintreten sollen, doch nahm ich davon Abstand. Weil mein Sohn vorletztes Jahr in die dem Marine Corps angeschlossene Oberschule in Texas aufgenommen wurde und sich nun in Amerika befindet, bin ich selbst wieder im letzten Sommer in den Tendōkan eingetreten.

Wenn ich jetzt zurückblicke, habe ich vor 20 Jahren etwas gemacht, was ich nun bedauere. Ich denke häufig darüber nach, auf welche Weise mein Leben anders verlaufen wäre, wenn ich bis heute kontinuierlich Aikidō betrieben hätte. Aber weil diese Zeit nicht wieder kommt, bringt es nichts, darüber nachzudenken. Nun bemühe ich mich mit aller Kraft, kontinuierlich Aikidō zu trainieren, damit ich es nicht noch einmal bedauern muss. Schliesslich passt dieser Weg zu mir.

(Das Manuskript erhielten wir in japanischer Sprache – die Herausgeber)

© übersetzt von Birgit Lauenstein und Peter Nawrot 08/2002