Fliessendes Wasser fault nicht
Kawaraban Nr. 1
01/1990
von Kamata Shigeo
Es gibt in der östlichen Medizin den Ausdruck: „Fliessendes Wasser fault nicht“.
Fliessendes Wasser modert nicht, ist immer frisch, sodass auch Fische darin leben können. Das gleiche gilt auch für den Geist und den Körper des Menschen. Durch ununterbrochenes kontinuierliches Bewegen beim Training kann man die Jugendlichkeit bewahren. Man kann grosse Kräfte entfalten, wenn man unablässig immer etwas fortführt, sei es bei der Arbeit, beim Studium, bei den Kriegskünsten oder in der Kunst.
In Miyamoto Musahis (1584-1645) ‚Buch der 5 Ringe’ (GoRinSho) wird die Praxis des morgendlichen und abendlichen Trainings erläutert. Im `Buch des Wassers` wird gesagt: „Tausend Tage beim Training abhärten und zehntausend Tage trainieren“. Und was das Training betrifft, wird gepredigt: „Auch auf einem sehr langen Weg bringt einen jeder Schritt weiter“. Alles auf ein Mal erreichen zu können, ist ein Irrglaube. Schritt für Schritt, durch wiederholte Übung wird man nach und nach die Geheimnisse des Weges meistern.
Früher gab es in Nara einen Mann namens Myōsen. Er trat in den Genkō-Tempel ein und studierte die Lehren der Hōsō-Sekte. Aber da er schwer von Begriff war, hat er trotz der Unterweisungen nichts verstanden. Das lag daran, dass die Lehren der Hōsō-Sekte ausgesprochen schwierig waren. Der verzweifelte Myōsen gab sein Studium auf und entschloss sich, den Tempel zu verlassen. Zufälligerweise fing es gerade zu diesem Zeitpunkt an zu regnen, und als er unter dem Eingangstor vor dem Regen Zuflucht suchte, fiel sein Augenmerk auf den Stein, der das Fundament des Eingangstores bildete. Auf diesen Stein fiel der Regen tröpfchenweise, wodurch eine Vertiefung entstanden war. Als er das sah, wurde Myōsen erleuchtet. Es können also sogar schwache kleine Wassertropfen einen Stein aushöhlen. Er verstand, dass es dazu viel Zeit braucht. Myōsen, der dadurch Erleuchtung erlangte, kehrte wieder in den Tempel zurück, bemühte sich voller Hingabe und wurde schliesslich der berühmte buddhistische Mönch Daisōzu.
In den buddhistischen Sutren steht folgendes geschrieben:
Ihr Menschen, wenn Ihr Euch mit Hingabe bemüht, ist nichts unmöglich. Deshalb müsst Ihr Menschen Euch einfach um Hingabe bemühen. Wenn z.B. auch nur ein wenig Wasser ständig fliesst, bedeutet das die Aushöhlung des Steines.
Nach den Lehren dieser Sutren versteht man die Bedeutung der Hingabe. Die Sutren lehren uns, dass auch kleine Wassertropfen, wenn sie kontinuierlich auf einen Stein fallen, diesen aushöhlen können.
Die Worte dieser Sutren sind vollkommen identisch mit der Aussage: „Fliessendes Wasser fault nicht“. In den Sutren wird von „ständiger Hingabe“ gesprochen. Űberall gibt es das ständige Bemühen beim Training. Auch in unserem Dojo spricht das Oberhaupt, Shimizu Sensei, immer davon, dass „Kontinuität zu Stärke wird“, und ermutigt uns. Das ist genau das gleiche wie: „Fliessendes Wasser fault nicht“. Gerade eben eine einzige Sache kontinuierlich auszuführen, bringt grosse Stärke hervor.
Ich denke, dass Fortschritt durch Kontinuität und Hingabe bewirkt wird. Und ich halte es auch beim Aikidotraining für überauss wichtig, konzentriert zu üben und `ki` auszusenden.
© übersetzt von Birgit Lauenstein und Peter Nawrot 05/2004