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Dialog des Körpers

Kawaraban Nr. 5

01/1991

von Kenji Shimizu

Ich denke, dass die Japaner seit alters her ein empfindsames Bewusstsein, für das Schamgefühl besitzen. Doch heutzutage hat dieses Schamgefühl rapide abgenommen, und es fällt auf, dass die Gesellschaft sich gefühllos verhält. Eigentlich würde man denken, dass wirtschaftliches Wachstum die Herzen der Menschen bereichert, aber im Fall von Japan scheint die positive wirtschaftliche Entwicklung die Herzen der Menschen zerstört zu haben. Wenn man die gegenwärtige Lage Japans mit den Rädern eines Autos vergleicht, sind bloss die Räder der Wirtschaft gross geworden, die anderen Räder, die die geistige Seite darstellen, sind kleiner geworden. Daraus folgt eine schlechte Balance, man kann nicht mehr geradeaus fahren, und es ist, als ob man sich im Kreis drehen würde.

Wirtschaftlicher Fortschritt sollte doch der Verbesserung des Lebens dienen, aber es hat den Anschein, als würde die wirtschaftliche Entwicklung allein der wirtschaftlichen Entwicklung dienen. Um ein gutes Lebensgefühl zu erzeugen, sind Umgangsformen wichtig. Man kann nur über die heutige Zeit staunen, in der die Umgangsformen fehlen. Was ist mit folgendem Ausspruch: „Wenn der Lebensunterhalt gesichert ist, achtet man auf Umgangsformen“, passiert? Es gibt so viele Leute, sei es beim Autofahren, beim Gehen oder in den Zügen, die andere belästigen und sich nichts dabei denken; auf der anderen Seite gibt es nur ausgesprochen wenige Leute, die warnend einschreiten, wenn sie so etwas sehen.

Die Überfüllung der Züge zu der uns wohlbekannten Stosszeit ist nichts anderes als  ob man Hühner in einen Korb gepackt transportiert.  Von den Leuten wird man wohl hören: „In einem derartigen Gedränge sind Manieren total egal, und sie bleiben, wenn man nicht aufpasst, auf der Strecke zurück.“ Doch im Gegenteil, Manieren sind gerade notwendig, weil es überfüllt ist. Wir leben heute in einer Welt, in der die älteren Menschen keine Würde besitzen, in der die älteren Menschen der Jugend kein gutes Vorbild geben und die Jugend die älteren Menschen nicht achtet.

Mir kommt in letzter Zeit häufig zu Ohren: „Die heutige Jugend gehört zu den `shinjinrui` (ein Menschentyp, den die 80-er Jahre hervorgebracht haben, Anm. Űbersetzer), doch das ist lächerlich. Sind sie nicht unsere eigenen Nachkommen? Das zeigt die Resignation der äteren Menschen. Früher hatten die Eltern zu ihren Kindern engen körperlichen Kontakt, die Eltern lehrten die Kinder auf diese Weise unmissverständlich durch ihre Körpersprache, und das nannte man moralisches Training. Die Kinder hatten vor ihren Eltern Angst. Das lag daran, dass die Eltern die Erziehung ihrer Kinder ernst genommen haben. Wir befinden uns heute im Informationszeitalter, wo wir von Informationen aus Fernsehen und Magazinen überschüttet werden. Auch das hat einen grossen Einfluss auf die Kinder. Eigentlich sind Kinder Wesen, die mit ihrem gesamten Körper mit der Aussenwelt im Dialog stehen, und danach sehnen sie sich. Aber heutzutage, wo wir uns in einem Zeitalter befinden, in dem wir mit Informationen für Augen und Ohren überflutet werden, verarbeiten wir diese Informationen für Augen und Ohren nur mit dem Kopf. Auch Erziehung findet auf diese Art und Weise statt. Ist nicht der Hauptgrund dafür, dass unsere Welt unsensibel geworden ist, darin zu suchen, dass nur dem Kopf Bedeutung beigemessen wird und der Dialog des gesamten Körpers mit der Aussenwelt vernachlässigt wird?

Genauso wie wir beim Autofahren Theorie und Praxis benötigen, so gilt das für jede Sache. Wissen allein genügt nicht, ohne Erfahrung versteht man die Dinge nicht wirklich.

Abhängig von der Tiefe unserer persônlichen Erfahrung werden wir die verschiedensten Dinge verstehen lernen, und ein neuer Horizont wird sich auftun.

Mit Sicherheit werden uns auch in unserer Umgebung Dinge auffallen, die wir bisher nicht wahrgenommen haben. Und wenn sich alle Menschen in diese Richtung entwickelten, dann würde sich diese unsensible Welt, der die Umgangsregeln abhanden gekommen sind, bestimmt zum Guten wenden.

© übersetzt von Birgit Lauenstein und Peter Nawrot 05/2004