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Memoiren - Das 40-jährige Jubiläum (3)

Kawaraban Nr. 81

06/2010

vom Leiter des Tendokan, Kenji Shimizu

Seitdem ich Uchi-Deshi wurde, war mein Leben so, als wäre ich mitten in einen reißenden Strom hineingeworfen worden. Morgentraining, Privattraining, dann am Abend wieder Training, und bereits zum Anfang der Uchi-Deshi Zeit mußte ich auch Aushilfstraining (Unterricht in einem anderen Dojo) geben.

Es war die Zeit, in der ich noch einen weißen Gürtel trug. In dem Dojo, wo ich Aushilfstraining geben mußte, befanden sich auch Danträger. Gelegentlich sollte ich auch an Orten unterrichten, an denen es dritte oder vierte Danträger gab, und ich erinnere mich daran, daß ich deshalb große Bedenken hatte. Aber ich glaube, weil es im Aikido im Gegensatz zu anderen Budokünsten keinen Wettkampf gibt, waren die meisten Leute im Dojo nicht agressiv sondern freundlich. Sie hatten wohl für meinen Standpunkt viel Verständnis. Wenn ich jetzt zurückdenke, kann ich sagen, daß ich zwar ein Vielfaches der anderen trainierte habe, aber es waren doch nur ungefähr drei Monate nach meinem Eintritt. Ich staune trotzdem, daß ich so etwas machen konnte.  Eigentlich habe ich mich aber nur an die Anweisungen der Bosse, in anderen Dojos zu unterrichten, gehalten.

Nun will ich den vorigen Artikel fortsetzen. Herr Shigeru Sahashi, der Vize-Minister im MITI (die Hauptfigur in Saburo Shiroyamas Roman „Sommer der Bürokraten“), machte immer in seinen Vorträgen aikidospezifische Dinge zu seinem Hauptthema, und er sagte mir einmal spaßeshalber: „ Ich spreche in meinen Vorträgen bis zu 80% über grundsätzliche Dinge und Philosophie im Aikido, dann hören die Anwesenden mir mit mehr Aufmerksamkeit zu, als wenn ich über wirtschaftliche Themen rede. In diesem Sinne könnte ich nämlich ein 6. Dan für Aikido-Vorträge sein .... hahahaha“.

Ich möchte nun ein paar Sätze aus einem Buch von Herrn Sabashi zitieren.

[Hinweis der Übersetzer: Do heißt wörtlich „Weg“, „Straße“,  und bedeutet auch  „Methode“, „Prinzip“, „der rechte Weg“. In den japanischen Künsten spielt der Begriff Do  neben seiner wörtlichen Bedeutung „Weg“ eine gewichtige Rolle. Um das Innere einer Kunst zu erfahren, muß man auf dem Weg weiter voranschreiten. Dieser kontinuierliche Übungsprozeß ist wesentlich. Beipiele sind Sado (Teeweg), Shodo (Weg der Kalligraphie), Judo (Weg der Nachgiebigkeit), Kendo (Weg des Schwertes) und natürlich Aikido.]

"Budo und Sport sind verschieden (wie auch Aikido). Budo bezweckt, die Kontrolle über Leben und Tod anderer Menschen zu erlangen. In der ganzen Welt in jeder Nation gibt es auch verschiedene Formen der Kampfkunst. Aber ich kann nicht erkennen, daß mit Ausnahme in Japan irgendwo in gleicher Weise eine Kampfkunst zu einem Lebensweg (do - 道 ) wie das Budo (武道) entwickelt und bewahrt wurde.

Hierbei bedeutet Do den Weg, auf dem Menschen sich trainieren, um sich zu verbessern, einen Weg, auf dem Menschen voranschreiten müssen. Im Budo (武道) ist es das Ziel, durch den Kampf zu einem Weg der Menschlichkeit zu gelangen. Bu (武) bedeutet Auseinandersetzung und Kampf. Im Bu muß man durch Training und Verbesserungen seiner eigenen Fähigkeiten einen Zustand erreichen, in dem man seine Waffen (Hoko (矛)  - Hellebarde; Bu bedeutete etymologisch Hoko) nicht mehr benötigt. Es wird gesagt, daß das japanische Budo durch die Vereinigung mit dem Zen vervollständigt wurde. Daher heißt dieser Zustand Satori (Einsehen)."

Wegen seinen Erfahrungen sagt Herr Sahashi: „Menschen mit hartem Körper haben meistens auch einen starren Kopf“. Menschen mit geschmeidigem Körper haben auch einen flexiblen Geist. Und Menschen mit flexiblem Geist haben meistens auch einen geschmeidigen Körper. Daher kann man daraus schließen, daß der Geist flexibler wird, wenn man den Körper geschmeidiger macht. Ich denke nicht, daß diese Logik ganz eindeutig ist, aber andererseits ist wohl etwas Wahres daran. In der Tat ist der Körper eines Kindes geschmeidig und auch sein Geist ist flexibel. Im Gegensatz dazu wird der Körper härter, wenn wir älter werden, und auch der Kopf wird starrsinninger. Diese Logik war auch der Grund, warum Herr Sabashi Aikido trainierte. Durch das Training wird der Körper geschmeidig, und dadurch wird auch der Kopf wie bei einem Kind flexibel.

Und jetzt erweitern wir unser Wissen noch einmal. Der Kernpunkt im Budo ist Mushin (無心).

[Hinweis der Übersetzer: Mushin (unbefangenes Herz) ist ein Begriff aus dem Buddhismus. Es bedeutet den Zustand, in dem man sich von allem materiellen Verlangen befreit und das weltliche Selbst überschritten hat.]

Mushin bedeutet einen Zustand ohne Befangenheit. Das ist ein Zustand, in dem wir frei sind von allen Verkrampfungen und Verspannungen. Wenn wir mit einer derartigen Geisteshaltung einem Gegner gegenüberstehen, dann können wir seine Bewegungen augenblicklich erkennen. Und daher kann im selben Moment eine angemessene Technik gegen den Angriff ausgeführt werden. Nach diesen Erklärungen fuhr Herr Sahashi fort mit den Worten „Ich will nicht sagen, daß ich schon heute diesen geistigen Zustand der Selbstkontrolle erreicht habe. Aber ich will mich dahin weiterentwickeln ...“.

Ich möchte kurz abschweifen. Es gab in der aktiven Dienstzeit von Herrn Sahashi in seinem Umfeld die verschiedensten Menschentypen. Manchmal entstanden Wortwechsel, und als er irgendeiner wichtigen Persönlichkeit des rechten Flügels gegenüberstand, stand es mit den Worten „Wenn Sie mir nicht zuhören wollen, dann verlassen Sie bitte den Raum!“ kurz vor dem Ausbruch eines Streites, so wurde mir berichtet. Ich denke, daß Herr Sahashi jemand war, der unschuldig wie ein neugeborenes Kind werden konnte.

© übersetzt von Ichiro Murata und Peter Nawrot 11/2010