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Sich selbst erkennen

Kawaraban Nr. 9

01/1992

von Kenji Shimizu

Auch dieses Jahr verbrachte ich wieder sehr ruhige Neujahrsfeiertage.

Aber es gab einen kleinen Unterschied  zu den letzten Jahren. Ich hatte Gelegenheit, über mich selbst in aller Ruhe nachzudenken.

Jeden Tag bin ich mehrmals ins heiße Bad gestiegen (damit meine ich das heiße Bad bei uns zu Hause, dem ich Badesalz beigegeben hatte) und habe dabei versucht zu ergründen, was der Mensch, den wir unser Selbst nennen, nur für ein Wesen ist und was Ki, Seele und Körper eigentlich sind.

Leider kam ich zu dem Schluß, daß ich auch in meinem jetzigen Lebensalter die beiden Aspekte Geist und Körper immer noch nicht ganz verstehe.

Trotzdem will ich etwas von meinen Überlegungen berichten.

Zuerst machte ich mir Gedanken über den Körper und empfand Dankbarkeit darüber, daß der Kopf, beide Arme, beide Beine, die Eingeweide und inneren Organe unablässig arbeiten. Zugleich erstaunte es mich, daß z.B. der Herzkreislauf pausenlos, Tag und Nacht stillschweigend bis zum heutigen Tag arbeitet.

Man mag sich zufrieden geben zu denken, das wäre etwas ganz Natürliches, doch wer mag einen solchen menschlichen Körper geschaffen haben? Man kann es sich nur als Wunder vorstellen. Unsere Eltern haben uns auf diese Welt geschickt, und erneut kommt ein Gefühl der Dankbarkeit auf. Zu dem Zeitpunkt aber, an dem wir bemerken, daß wir sie ehren sollten, haben sie in den meisten Fällen die Erde schon wieder verlassen.

Reue kommt immer zu spät. Dieses trifft auch auf unseren eigenen Körper zu. Die Wichtigkeit der Gesundheit, der man zu gesunden Zeiten keine Aufmerksamkeit schenkt, wird man das erste Mal erst durch Verletzung, Krankheit oder Unfall verstehen und dann die eigene Kurzsichtigkeit bereuen.

Ich will die Hand mit der ich diesen Aufsatz hier schreibe als Beispiel nehmen. Solange nichts passiert, gibt es kaum etwas Nützlicheres. Doch wenn einmal eine Beeinträchtigung auftritt, besonders bei der rechten Hand, so ist man hilflos. Beim Essen, auf der Toilette, beim Anziehen fühlt man, als ob eine Hälfte des Kör­pers  abgestorben wäre.  Dies hat auch Auswirkungen auf das Ki. Man wird schwach (=das Ki ist schwach).  So wie man schon seit alters her sagt, "Krankheit entsteht durch das Fehlen von Ki", ist das Ki mit Ausnahme von bestimmten Krankheiten ein starker Verbündeter, der den Körper unterstützt. So können zum Beispiel durch eine starke Geisteshaltung (kimochi) auch Schmerzen unterdrückt werden, oder man verhindert eine Erkältung, auch wenn man sich im Winter, wenn es kalt ist, draussen in leichter Kleidung  zum Zazen ( Meditation im Sitzen )  begibt.

Wenn man ferner für einen Ausflug früh aufstehen muß, bereitet es keine Mühe, doch ist es für die Arbeit, so fällt es schwer.

Folglich ist es den Menschen möglich, durch den Einsatz von Ki  auf verschiedenste Art und Weise zu leben. Wir alle bewegen uns in unterschiedlichen  Lebensbereichen wie Familie, Arbeitsplatz, Gegend u.s.w.. Und ob es uns gefällt oder nicht, wir leben in­mitten einer menschlichen Gesellschaft, wo es nicht nur wunschgemäss Erfreuliches gibt, sondern auch traurige und qualvolle Dinge mit dazu gehören.

Das Wichtigste während eines Menschenlebens ist, die eigene Lebenskraft und die Gemütsverfassung zu trainieren, um  sich zu vervollkommnen.

Heutzutage ist man bei plötzlichen Veränderungen der Weltlage oder bei Naturkatastrophen bestürzt. Doch wenn die Lebenskraft vervollkommnet ist kann man in diese Situationen gelassen begegnen und  überlegen, was für Veränderungen und welche Notstände eintreten könnten, und entsprechende Maßnahmen ergreifen.

Lebhaftigkeit ist ein Zeichen des Lebens, und ich wünsche mir, dass sie bis zum Tod anhält. 

Ein jeder Mensch hat Schwächen. Entweder kennt man seine Schwä­chen nicht, oder man neigt dazu, sie absichtlich zu übersehen.

Beim Aikidotraining  unterscheiden wir `shite` (Ausführender) und `uke` (Angreifer). Dabei  erkennt man seine Schwächen (uke) und kann sich dies zu  Nutze machen (shite), um selbst noch stärker zu werden. Dadurch wird Schwäche in Stärke verwandelt, Selbstbewußtsein aufgebaut und Lebenskraft vervollkommnet.

Werden wir uns nicht selbst erkennen, wenn wir unsere Schwachpunkte herausfinden und diese Punkte trainieren?

Jetzt am Jahresanfang bin ich erfrischt und habe den Entschluss gefasst, dieses Jahr ein bedeutungsvolles Jahr werden zu lassen.

© übersetzt von Birgit Lauenstein und Peter Nawrot 02/2005