Was den Japanern abhanden gekommen ist
Kawaraban Nr. 62
06/2005
vom Leiter des Tendokan, Shimizu Kenji
Es gibt wohl nur wenige Japaner, die sich unter Serbien-Montenegro sofort etwas vorstellen können. Ursprünglich war dieses Land dem jugoslawischen Staatenbund angeschlossen, und im Februar 2003 haben sich die beiden Länder Serbien und Montenego zu einem Staat zusammengeschlossen. Die Auseinandersetzung um den Kosovo zur Zeit des jugoslawischen Staatenbundes ist noch frisch im Gedächnis, doch allgemein gesagt ist Serbien-Montenegro noch ein fremdes Land für uns. Aus diesem Land ist jemand für einen Monat zum Training in mein Dojo gekommen. Es handelt sich um Ivo Jovovich (47 Jahre), der der lokale Tendoryu Verantwortliche ist. Er war zum zweiten Mal seit zwei Jahren im Tendokan. Es sind beinahe 20 Jahre vergangen, seit ich ihn zufällig getroffen habe. Alles begann, als ich in Köln / Deutschland einen Lehrgang gab, und er zusammen mit anderen Leuten daran teilnahm. Danach wurden auch in der jugoslawischen Hauptstadt Belgrad häufig Seminare veranstaltet. Ich finde es wirklich bewundernswert, dass er trotz des großen wirtschaftlichen Unterschieds zu Japan ohne Familie nur zum Trainieren nach Japan kommt.
Er trennt Arbeit und Hobby nicht, sondern das Aikido spiegelt sich bei ihm im täglichen Leben wider. Es mag ein bißchen wie Eigenlob klingen, doch er sagt, er sei von meinem Aikido fasziniert. Ich wäre sehr froh, wenn durch das Aikido auch nur eine weitere Person Japan gut verstehen würde.
Im Sommer des Jahres, in dem Serbien-Montenegro gegründet wurde, reiste ich im Rahmen eines Lehrgangs zusammen mit meinem Sohn in eine Gegend, die Tivat heißt und direkt am Baltischen Meer liegt. Die Wirtschaft mag am Boden liegen, aber menschlich gesehen fühlte ich Reichtum. Auf der Restaurant-Promende entlang der Küste erklang die ganze Nacht Musik, und die einfachen und liebenswerten Menschen vergnügten sich beim Essen und bei Unterhaltung. Auch wenn der Lebensstandard niedrig ist, gibt es nicht nur ein Streben nach Geld. Zu den Zeiten der Unruhen kamen nur Informationen von amerikanischer Seite herüber, und man konnte nicht umhin, ein einseitiges Bild zu erhalten. Doch wenn man sich direkt vor Ort ein Bild zu machen versuchte, merkte man, daß die Informationen nur aus einer Richtung kamen.
Wenn man das nun mit Japan vergleicht, so ist Japan dem Namen nach eine wirtschaftliche Großmacht, doch wenn man danach fragt, wie unser Herz ist, so sind die Japaner halbherzig. Warum hat sich die geistige Seite so verschlechtert? Was ist uns Japanern abhanden gekommen? Japan wurde von den Großmächten im Rahmen ihrer Eroberungspolitik nie besetzt. Früher besaßen wir einen standhaften und würdevollen Geist. Aber das Mitgefühl und der Mut sind irgendwann verloren gegangen. Ich denke ständig daran, daß die in letzter Zeit schwach gewordene japanische geistige Seite durch Aikido wenigstens etwas von den verlorengegangenen Dingen zurückerlangen kann.
© übersetzt von Birgit Lauenstein und Peter Nawrot 08/2005